Die Arbeitgeber wettern gegen die Arbeitszeiterfassung. Stattdessen fordern sie die Flexibilisierung der Arbeitszeit. Arbeit ohne klare Grenzen ist mit Familie, Gesundheit und Freizeit nicht vereinbar und widerspricht den Wünschen der Beschäftigten. Arbeitszeiten müssen zum Leben passen, meint das #schlaglicht 06/2023 aus Niedersachsen.
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Das Jahr ist noch keine zwei Monate alt, da ist die Wahl zum schlechtesten Witz 2023 schon gefallen. Vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung haben die Metallarbeitgeber in der letzten Woche vor Bürokratiebelastungen und einer Stechuhrmentalität gewarnt. Stattdessen sei vielmehr eine Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts sowie eine größere Eigenverantwortung der Beschäftigten für ihre Arbeitszeit geboten. Grandiose Pointe! Dahinter steht selbstredend der Wunsch nach weiterer Entgrenzung und längeren Arbeitszeiten.
Wie weit die Arbeitgeberverbände mit solchen Absichten von der betrieblichen Realität entfernt sind, zeigt eine neue Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). Eine überwältigende Mehrheit von 97 Prozent der Beschäftigten möchte allerspätestens um 18 Uhr Feierabend – also Zeitautonomie – haben (hier). Es besteht kein Interesse daran, spät am Abend nochmal eine Schicht einzulegen und sich an den Schreibtisch zu setzen.
Diese Aussagen kommen nicht von ungefähr. Laut dem gerade erschienen Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) sind lange Arbeitszeiten schon jetzt oft genug an der Tagesordnung (hier). Über ein Drittel der Frauen und fast 60 Prozent der Männer arbeiten pro Woche zwischen 40 bis 48 Stunden (siehe Grafik). Insgesamt liegt die Wochenarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten durchschnittlich bei 43 Stunden, über 4 Stunden mehr als vertraglich vereinbart. Auf der anderen Seite müssen sich weibliche Beschäftigte oft genug unfreiwillig mit Teilzeitarbeit begnügen.
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Arbeit ohne klare Grenzen, Überstunden und verkürzte Ruhephasen sind gleich mehrfach problematisch. Wird die gesetzliche Mindestruhe von 11 Stunden unterschritten, nehmen körperliche Beschwerden, Erschöpfung, Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit signifikant zu. Hinzu kommt eine erhebliche Störung der Work-Life-Balance. Arbeit am Abend, in der Freizeit oder am Wochenende sind mit dem sozialen Rhythmus von Familien und anderen privaten Aktivitäten nicht zu vereinen und löst permanenten Stress aus.
Deshalb ist klar: An mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit à la Arbeitgeberlogik besteht exakt null Bedarf! Dort, wo noch keine Zeiterfassung praktiziert wird, muss diese nach den Gerichtsurteilen auch ohne bisher vorliegendes Gesetz umgehend implementiert werden, wie das Bundesarbeitsministerium aktuell bestätigt hat (hier). Ebenso ist das Recht auf Nichterreichbarkeit vollständig zu respektieren.
Tatsächlich geht die Bewegung längst in eine andere Richtung. Viele Beschäftigte wünschen sich inzwischen etwas kürzere Arbeitszeiten, da die Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf und eine gerechtere Verteilung der Haus- und Sorgearbeit bei ihnen einen immer größeren Platz einnimmt. Clevere Betriebe, die auf der Suche nach qualifiziertem Fachpersonal sind, bieten zunehmend die 4-Tage-Woche an, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Es braucht Arbeitszeiten, die zum Leben passen. Und das ist bestimmt kein Scherz.